Die Psychologie Eines Trends
Ein Blick auf einen beliebigen Chart legt die Vermutung nahe, dass Preise sich nicht willkürlich bewegen. Fängt ein Wertpapier an zu steigen, so steigt es meist eine geraume Zeit, bevor diese Aufwärtsbewegung zum Erliegen kommt.
Warum steigt ein Kurs? Kurzfristige Preisbewegungen beruhen ausschließlich auf psychologischen Phänomenen. Dies lässt sich treffend mit dem Begriff der „Greater Fool Theory“ beschreiben: Wer ein Instrument gekauft (verkauft) hat, geht davon aus, dass er einen „größeren Dummkopf“ finden wird, dem er es teurer wieder verkaufen (respektive von dem er billiger zurückkaufen) kann.
Zunächst einmal steigen Kurse, weil sich Käufer finden, die in Erwartung stei-gender Kurse bereit sind, für ein Handelsinstrument mehr zu zahlen als der letzte Käufer. Sie agieren aggressiv, weil sie fürchten, etwas „zu verpassen“. Die Verkäufer hingegen versuchen, einen möglichst hohen Verkaufserlös zu erzielen. Sehen sie sich wachsender Nachfrage gegenüber, beginnen sie natur-gemäß, die Verkaufspreise zu erhöhen, können passiv abwarten, welcher der vielen Käufer das Angebot akzeptiert.
Da die Börse ein Massenphänomen ist, das von emotional handelnden Men-schen bevölkert wird, zieht ein beginnender Kursanstieg Aufmerksamkeit auf sich – die „Hausse nährt die Hausse“.
Dieses Verhalten wiederholt sich so lange, bis nicht mehr genügend Trader höhere Preise erwarten und die Käuferseite im Markt „austrocknet“. Jetzt müssen verkaufswillige Marktteilnehmer „Preisnachlässe“ gewähren, um ihre Long-Positionen glattzustellen oder Short-Positionen zu eröffnen. Käufer sind nur bereit, zu niedrigeren Preisen Papiere abzunehmen. Es entsteht eine sich selbst nährende Abwärtsbewegung, die Baisse.
Triebfedern der Preisbewegungen an den Märkten sind also die Gier (nach Gewinn und mehr Gewinn), die Angst (vor Verlust, dem Verlust eines Gewin-nes oder schlicht, etwas zu verpassen), Panik (bei rasanten Kursverfällen), Hoffnung (bei Bodenbildungen).
Der Chart ist mithin ein Spiegelbild des emotionalen Zustandes des Marktes. Da Emotionen sich nicht oder nur sehr langsam verändern, kann man davon ausgehen, dass die gleichen Emotionen angesichts gleicher oder ähnlicher Chartbilder wieder auftreten werden – Geschichte wiederholt sich. Wir erin-nern uns: Das ist eines der Axiome der Technischen Analyse.
Für den Trader besteht die Möglichkeit, sich dieses Phänomen zunutze zu ma-chen.
Korrekturen oder UmkehrEine der schwierigsten Aufgaben ist es, einen Trend hinsichtlich seiner Reife einzuschätzen. Das zweite Axiom der Technischen Analyse postuliert, dass Trends eine höhere Wahrscheinlichkeit haben sich fortzusetzen, als dass sie sich umkehren. Trotzdem muss jeder Trend zwangsläufig irgendwann min-destens korrigieren und schließlich enden.
Um es klar zu sagen: Das Ende eines Trends ist immer erst in der Retrospek-tive erkennbar - in der Mitte des Charts. Am rechten Bildrand operieren Tra-der und Investor in einem Bereich der Unsicherheit, wo sie sich lediglich Wahrscheinlichkeiten zunutze machen können.
Mittels einer Checkliste kann ein Trader zumindest eines analysieren: Ist der Zeitpunkt für einen Einstieg in einen bestehenden Trend günstig oder un-günstig? Ist eventuell der Zeitpunkt gekommen, um einen Kontra-Trend-Trade zu platzieren?
Anhaltspunkte für bevorstehende Trendwenden oder Korrekturen könnten sein:
1. Trendkanäle werden nicht mehr durchhandelt
2. Es kommt zu Trendbeschleunigungen (Ausbrüchen aus Trendkanälen)
3. Kerzenkörper werden kürzer
4. Kerzendochte und -lunten werden länger
5. Umkehrkerzen treten gehäuft auf
6. Das Volumen nimmt extrem ab (Käufer- oder Verkäufer"streik")
7. Das Volumen nimmt extrem zu (Distribution bzw. Akkumulation)
8. Das Open Interest nimmt ab
9. Kürzere Zeiträume zwischen den Korrekturen
10. Eine bestimmte durchschnittliche Anzahl von Kerzen in Bewegung (Korrektur) wurde bereits erreicht
11. Erreichen von Widerstands- oder Unterstützungsclustern in verschiedenen Zeitebenen
12. Erreichen von Fibonacci-Retracement-Clustern verschiedener Bewegungsimpulse
13. Häufung falscher Ausbrüche
14. Auftreten von Divergenzen in Technischen Indikatoren
Die Punkte 1 und 2 beziehen sich auf die Trendkanäle, 3 bis 5 auf Kerzenfor-mationen. Punkt 6, 7 und 8 betreffen das Volumen. Punkt 9 und 10 beobach-ten den Zeitfaktor. Die Punkte 11 bis 13 sind Varianten des Themas Wider-stände und Unterstützungen. Punkt 14 betrifft die Arbeit mit Indikatoren.
Psychologischer Hintergrund all dieser Symptome: Die bislang dominante Marktpartei der Käufer oder Verkäufer verliert die Gewalt über den Markt. Käufer werden vor Kurshochs "knapp", können den Markt nicht mehr mit Kraft auf neue Hochs heben. Die professionellen, mutigen Marktteilnehmer sind bereits engagiert, die letzten, ängstlichen, unprofessionellen Marktteil-nehmer, werden am Schluss aktiv.
Sie werden getrieben von der Angst, etwas zu verpassen. Gleichzeitig formiert sich die Gegenpartei der Verkäufer: Je hö-her die Kurse steigen, desto mehr gewinnen Verkäufe an Attraktivität. Die Gewinne wachsen und damit nimmt exponentiell die Angst um diese Buchge-winne zu. Die Verkaufsbereitschaft der long positionierten Investoren bei kleinsten Rücksetzern steigt.
Im Abwärtstrend sind Verkäufer aggressiv, solange die Käuferseite jeden Kursrückgang gierig zum Einstieg nutzt und zu "Schnäppchenkursen" zu-greift. Leerverkäufer beschleunigen den Kursverfall, ebenso Stop-Verkäufe. Irgendwann haben die Kurse ein so niedriges Niveau erreicht, dass niemand mehr verkaufen möchte - die Erlöse sind einfach zu niedrig. Tenor:"Jetzt ist's sowieso egal, das Geld ist ja weg und tiefer kann's nicht mehr fallen.
" Die Käu-fer, eben noch auf Schnäppchenjagd, bemerken das Desaster und wollen erst wieder kaufen, wenn die Kurse noch niedriger fallen. Leerverkäufer decken sich ein und sorgen für den "Dead Cats Bounce". Sobald die Leerverkaufsposi-tionen gedeckt sind, steigen die Kurse nicht weiter, weil alle Marktteilnehmer auf weitere Kursanstiege warten, aber niemand bereit ist, den gerade abge-stürzten Markt zu kaufen. Bröckeln die Kurse jetzt langsam unter das letzte Tief, kommt Panik auf: Offensichtlich kann sich ein Wert bis in Richtung Null mehrmals halbieren. Die Verkäufer werfen ihre Papiere auf den Markt, die Käufer nehmen sie zu Billig-Preisen in Empfang, bis wieder ein Verkäuferstreik den freien Fall beendet.
Am Ende der Abwärtsbewegung steht meist entweder eine V-Umkehr - ein ra-scher Squeeze Out der Leerverkäufer mit sofortigen Anschlusskäufen. Oder es kommt zu jahrelangen Seitwärtsbewegungen, weil eine ganze Anlegergenera-tion desillusioniert, resigniert und depressiv dem Aktienmarkt den Rücken kehrt.